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Juli 2006, Neue Zürcher Zeitung
Talisman Scolari und die Briten
Der Sargent befreit Portugal von Lastern und Komplexen
Der Stachel sitzt tief. Seit dem WM-Halbfinal von 1966 in London hat England kein Pflichtspiel mehr gegen Portugal gewonnen. 1986 in Mexiko, 14 Jahre später in Holland und an der EM 2004 im eigenen Land setzten sich die Lusitaner jeweils durch. Der letzte Exploit (nach Penaltyschiessen) hatte Polemik und eine Hetzkampagne englischer Medien gegen den Schweizer Schiedsrichter Urs Meier ausgelöst, der nach wochenlangem Terror seine Laufbahn beendete. Gibt es eine Verbindung dieser Episode zu den im Vorfeld des WM-Viertelfinals entfachten Spannungen? Blätter aus dem Königreich versuchten jedenfalls mit kaum vorstellbaren Tricks und Lügen, den Gegner zu enervieren.
Algarve und Eriksson
Portugiesische Meinungsmacher zeigten sich entrüstet und ahmten nach einer Denkpause den sprichwörtlichen britischen Sarkasmus nach. Es müsse schon viel passiert sein, wenn Prototypen der Coolness solch schwere emotionale Geschütze auffahren. Erst recht gegen ein Land, das sie mit Vorliebe als Vorposten Afrikas darstellten, arm, schmutzig und von Baracken verunstaltet. Doch die Haltung ist ambivalent: «We love Algarve», jubilieren viele Briten unter der Sonne. Untertanen Ihrer Majestät haben den südlichen Teil Portugals touristisch erschlossen und in gewisser Weise kolonialisiert. Die Region ist kosmopolitisch, die englische Sprache vorherrschend. Eingeborene wissen der «Invasion» auch etwas Positives abzugewinnen: Im Gegensatz zu anderen Landesteilen prosperiert die Algarve.
Mitte Mai durfte sich das luxuriöse Ressort in Vale do Lobo wieder über ein glänzendes Geschäft freuen. Inklusive Frauen hielt die englische WM-Delegation hier ein Trainingslager ab – wie im Vorjahr Manchester United. Eingefädelt hatte den Deal Verbandstrainer Sven-Göran Eriksson, eine Persona grata in Portugal. Während fünf Saisons trainierte er Benfica Lissabon erfolgreich und hinterliess mit untadeligen Manieren Eindruck. Der als Mister verehrte Schwede promoviert auch ein im Bau befindliches Trainingszentrum bei Lagos an der Westalgarve. Auf 700 Hektaren entstehen dort Hotels, Golfplätze, Anlagen für verschiedene Modalitäten und neun Fussballfelder; 85 Millionen Euro werden investiert.
Scolari greift in die Trickkiste
Eriksson war es peinlich gewesen, als englische Medien das «Skandalspiel» gegen Holland zum Anlass nahmen, über die portugiesische Auswahl herzuziehen. Er begriff sich als Anwalt der Lusitaner und bescheinigte ihnen Fairplay, dürfte insgeheim aber doch froh sein, dass Deco nach seinem Platzverweis im Viertelfinal gesperrt ist. Der Luso-Brasilianer hat zwar noch nicht das Charisma von Captain Luis Figo, ist aber zweifellos der komplettere Spieler: stark im Zweikampf, schnell, gute Vista und ein gefährlicher Schütze aus der Distanz, die Schaltstelle. Da auch Costinha fehlt, muss Scolari die Mittelreihe umbauen. Von Petit und Maniche sekundiert, bietet sich Figo als Spielgestalter an. In diese Rolle schlüpfte er schon gegen Mexiko. Cristiano Ronaldo, dessen Liaison mit einer TV-Moderatorin ebenso aufmerksam verfolgt wurde wie der Heilungsprozess seines Oberschenkels, ist im Angriff neben Pauleta gesetzt. Wird das System beibehalten, greift Simão aussen an, sonst erhält der Aufbauer Tiago den Vorzug.
Scolari gilt als Talisman. Er handelt in heiklen Moment richtig und vermag Spiele durch Einwechslungen bzw. taktische Kniffe zu drehen. Voraussetzung des Aufschwungs nach dem miserablen WM-Abschneiden 2002 war allerdings die beharrliche Arbeit am Teamgeist. Die Seleção tritt wie eine Klubmannschaft auf, und dieses Bild setzte sich in den Köpfen und Herzen der Portugiesen fest. Scolaris Motivationskünste geben Stoff her und zu Spekulationen Anlass. Nachts soll er mit Sinnsprüchen beschriebene Karten unter die Zimmertür schieben, damit die Spieler gut in den Tag kommen und ein Ziel vor Augen haben. Beraten wird der strenge Katholik von einem Pastor aus Brasilien; mit ihm betet er regelmässig am Telefon. Den Überbau liefern Bücher: «Die Kriegskunst» von Sun Tzu und «Fliegen wie der Adler», ein Opus seines Landsmanns João Roberto Gretz .
Wechselbäder
Der wundersamen Verwandlung krisenbedingter Tristesse in Begeisterung mag ein Sport-Professor und Kolumnist der Fachzeitung «A Bola» nicht recht trauen. Er befürchtet einen krassen Stimmungsumschwung, sollte die Nationalmannschaft ausscheiden. Wirtschaft und Gesellschaft kämen noch weiter vom Kurs ab, sobald die Euphorie-Spritze ihre Wirkung verliert. An Scolari und seinen «23 Freunden» liegt es nun, dem Kassandra-Rufer die Stirn zu bieten und die Fiesta zu verlängern. Gemäss Umfragen glauben immer mehr Portugiesen an den ersten WM-Titel.